Andreas von Rétyi
Ein riesiges Schwarzes Loch hat sich durch eine aggressive Fressphase verraten – doch Forscher stießen erst kürzlich per Zufall auf das kosmische Monster mit seinen 100 Millionen Sonnenmassen. Eine kosmische Sondervorstellung, wie sie in unserer eigenen Galaxie nur einmal alle paar 10 000 Jahre vorkommt und jetzt in einem fernen Sternensystem entdeckt wurde.
Wenn Galaxien plötzlich deutliche Veränderungen zeigen, muss schon etwas ganz Großes im Gange sein. Für gewöhnlich bieten diese gigantischen Sternansammlungen kaum Abwechslung. Abgesehen von vereinzelten Supernova-Ausbrüchen, die einen zusätzlichen hellen Stern irgendwo in die Spiralarme zaubern, ändert sich dort kurzzeitig kaum etwas. Kürzlich aber haben Astronomen des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik (MPE) in Garching bei München während umfangreicher Datenauswertungen einen erstaunlichen Zufallsfund gemacht.
Andrea Merloni und seine Kollegen arbeiten daran, eine künftige Satellitenmission für Röntgenbeobachtungen vorzubereiten. Dazu stöbern sie in den riesigen Beständen desSloan Digital Sky Survey (SDSS), einer seit 1998 durchgeführten Himmelsdurchmusterung, die weite Teile des nächtlichen Firmaments im optischen Licht abtastet und dabei Millionen von Galaxien erfasst. Das zum Spektrum aufgefächerte Licht liefert in verschlüsselter Form zahlreiche Informationen über die fernen Sternmetropolen – ein Barcode der Natur.
Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, wiederholt Spektren bestimmter Galaxien aufzunehmen. Allerdings gleichen sich die Ergebnisse meist wie ein Ei dem anderen, selbst dann, wenn zwischen den Aufzeichnungen viele Jahre oder Jahrzehnte liegen. Menschenalter und historische Zeitalter bleiben auf der galaktischen Lebensuhr nichts als winzigste Sekundenbruchteile. Doch gibt es Ausnahmen. Auf eine davon stieß kürzlich die Gruppe von Merloni in einer Quasargalaxie mit der wenig anschaulichen Koordinaten-Bezeichnung SDSS J015957.64+003310.5, kurz »J0159+0033«.
Als die Astrophysiker diesen aktiven Galaxienkern auf mehreren Spektren genauer in Augenschein nahmen, bemerkten sie eine unerwartete, radikale Veränderung: Zwischen den Jahren 1998 und 2005 muss sich in jener Galaxie etwas ganz besonders Dramatisches abgespielt haben, dasallerdings niemandem aufgefallen war. Der kosmische Barcode lieferte Hinweise, was hier geschah.
Es sah genauso aus, »als ob das zentrale Schwarze Loch ein- und wieder ausgeschaltet wurde«, erläutert Merloni. Die Beobachtungen bestätigen auch die unabhängig gewonnenen Ergebnisse einer zweiten Forschergruppe um Stephanie M. LaMassa in den USA. Diese Gruppe machte ihre Kollegen erstmals auf das Objekt aufmerksam, allerdings ohne die Interpretation der auslösenden Vorgänge.
Nach heutiger Einschätzung finden sich in den Zentralgebieten aller großen Galaxien solche supermassiven Objekte, die oft als finstere Materiefallen geschildert werden. Einige schlummern vor sich hin, andere sind gerade aktiv. Genaue Beobachtungen des Kerns unseres Milchstraßensystems liefern mittlerweile ebenfalls sehr deutliche Belege für die Existenz eines supermassiven Schwarzen Lochs von rund vier Millionen Sonnenmassen.
Riesenteleskope zeigen, wie sich dessen unmittelbare Nachbarsterne mit irrwitzigem Tempo um diese gigantische Masse bewegen. Seit 2004 ist außerdem eine Sterngruppe namens IRS13 bekannt, die sich um ein benachbartes, mittelgroßes Schwarzes Loch von rund 1300 Sonnenmassen bewegt. Das ganze Ensemble kreist nach derzeitigem Kenntnisstand zusammen mit Zigtausenden kleinerer Schwarzen Löcher um den mächtigen Kern. Das galaktische Zentrum ‒ eine völlig bizarre Welt.
Noch wesentlich massiger ist das Schwarze Loch von J0159+0033: rund 100 Millionen Sonnenmassen bringt es auf die Waage. Und es wächst weiter. Gerade »jetzt« zeigt es wieder deutliche Aktivität, die sich im veränderten »Barcode« offenbart. Durch reinen Zufall haben die beiden bedeutendsten Weltraum-Röntgenobservatorien, XMM-Newton der ESA sowie Chandra der NASA, im Abstand von zehn Jahren ebenfalls Bilder dieser kosmischen Region gemacht und die bemerkenswerte Galaxie abgelichtet. Diese Beobachtungen liefern Informationen darüber, wie dasSchwarze Loch »frisst«.
Die meisten Astronomen nehmen heute allgemein an, dass die supermassiven Schwarzen Löcher, die mitten in den großen Galaxien thronen, sich von interstellarem Gas ernähren. Umliegendes Gas kann der enormen Anziehungskraft nicht entkommen und wird erbarmungslos ins Innere des Schwarzen Loches gezogen. Solche Prozesse laufen mit Unterbrechungen über sehr lange Zeiträume ab.
So glauben Astronomen, dass ein anfangs recht kleines Schwarzes Loch, das während der Explosion eines massereichen Sterns entsteht, schließlich zu einem supermassiven »Monster« werden kann, wie es im Herzen der Galaxien sitzt. Doch ob sich die zentralen Giganten wirklich auf diesem Weg bilden oder ihre Geburt wesentlich direkter mit der Entstehung der Muttergalaxie verknüpft ist, kann derzeit niemand wirklich sicher beantworten. Was bleibt, sind mehr oder minder fundierte Spekulationen. Das Thema gilt als Gegenstand aktueller Forschungen.
Was allerdings Merloni und seinen Kollegen jüngst auffiel, passt sehr gut zu den Erwartungen, die man an das Verhalten aktiv fressender Schwarzer Löcher knüpft, sofern sie nicht gerade aninterstellarem Gas »nuckeln«, sondern einen ganzen Stern zerreißen und verschlingen, der ihnen zu nahekam.
Genau das muss im Fall von J0159+0033 geschehen sein. Die in die Länge gezogenen Überreste des Sterns wirbeln nacheinander in das Schwarze Loch und erzeugen jeweils riesige Strahlungsausbrüche. Diese Blitze leuchten für Monate oder gar ein ganzes Jahr so hell wie die vielen Milliarden übrigen Sterne der betreffenden Galaxie. Diese unvorstellbaren und seltenen Ereignisse sind auch als Tidal Disruption Flares (TDF) bekannt, da die apokalyptische Gezeitenwirkung des Schwarzen Loches für das grelle Aufleuchten verantwortlich gemacht wird.
Das aktuelle Beispiel wartet dabei mit einem Superlativ auf: Es ist das massereichste Schwarze Loch, das je bei einem solchen stellaren »Raubzug« entdeckt wurde. Außerdem gilt es als das erste System, von dem die Forscher mit einiger Gewissheit davon ausgehen können, dass es sich in den letzten paar 10 000 Jahren von interstellarem Gas ernährte – wobei der jetzt von der Erde aus beobachtete Zustand als zeitliche Bezugsmarke gemeint ist. Unlängst folgte dann der »Sonntagsbraten« in Gestalt eines massiven Sterns.
Astronomen werten die neuen Beobachtungen als wichtige Hinweise auf den typischen »Speiseplan« eines Schwarzen Loches – eine gute Mischung aus Gas und Sternen. Merloni zeigt sich sichtlich erfreut über die spannende Entdeckung, die vom blanken Zufall diktiert wurde. Und er wundert sich. Denn, so kommentiert er: »Louis Pasteur sagte: ›Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist‹. Aber in unserem Fall war niemand wirklich bereit. Wir hätten dieses einmaligeObjekt bereits vor zehn Jahren entdecken können, aber wir wussten nicht, wonach wir suchen müssen. In der Astronomie geschieht es recht häufig, dass wir den Fortschritt in unserem Verständnis des Kosmos zufälligen Entdeckungen verdanken. Jetzt haben wir eine bessere Vorstellung davon, wie wir mehr solche Ereignisse finden können; und zukünftige Instrumente werden unsere Reichweite erheblich erweitern.«
So soll in weniger als zwei Jahren das leistungsstarke eROSITA-Röntgenteleskop gebaut werden, um den gesamten Himmel abzutasten und dabei wahrscheinlich gleich Hunderte neuer TDFs zu finden. Außerdem befindet sich eine neue Generation von Riesenteleskopen in den Startlöchern, deren noch gigantischere Augen völlig neue Tore zum Universum aufstoßen werden. Was der Kosmos dann offenbart, das steht heute allerdings noch buchstäblich in den Sternen.